10
Firma Kiewe1 - „Die Glasschleifer dort waren fast alles Kommunisten“
Heute: Volkshochschule
Eisenbahnstraße 11
in der NS-Zeit
10
Heute: Volkshochschule
Eisenbahnstraße 11
Hier befand sich das Gebäude der Glasschleiferei Kiewe. Die Eigentümer, zwei jüdische Brüder, hatten 1928 die Produktion von hochwertigen Kristallgläsern von Frankfurt nach Heusenstamm verlagert und warben dazu Facharbeiter in Schlesien und Mähren an. Bald waren bis zu 40 Arbeiter bei Kiewe beschäftigt, die meisten von ihnen waren Anhänger der KPD. Die Zugezogenen waren nicht nur wegen ihrer Herkunft sondern auch wegen ihrer politischen Haltung in Heusenstamm Außenseiter. Unter ihnen waren besonders August Grieger und Anton Schwarzer für die KPD aktiv, was bald nach der Machtübernahme der Nazis zu ihrer Verhaftung führte.
Die Arbeitsbedingungen bei Kiewe waren schlecht, die Löhne niedrig. Ende 1932 sollten die Löhne noch weiter gekürzt werden. Es kam zum Streik, der sich über mehrere Wochen hinzog. Die mangelnde Solidarität durch die Gewerkschaft löste unter den Arbeitern Empörung aus. Auch die Gemeinde konnte die zu Sozialfällen gewordenen Arbeiter nicht unterstützen, weil ihre finanziellen Mittel durch andere Verpflichtungen bereits ausgeschöpft waren. Schließlich endete der Streik mit der Entlassung der angeblichen Rädelsführer, August Grieger und Anton Schwarzer waren mit dabei.
Material:
Bürgermeister Kämmerer (SPD) berichtet über den Streik bei Kiewe (11.1.1933) (nachgesprochen)
Kurz nach dem Streik und den Entlassung bei Kiewe erfolgte in Berlin die Machtübernahme der Nazis. Anfang Februar 1933 beteiligte sich August Grieger in Heusenstamm an antifaschistischen Protestmärschen. Gleichzeitig verteilte er Flugblätter, auf denen die KPD zum Generalstreik aufrief. Die Resonanz war gering, da SPD und die Gewerkschaften ihre Mitglieder zu Disziplin und Stillhalten aufforderten.
August Grieger gehörte zu den KPD-Mitgliedern, die die SA bereits Anfang März 1933 verhaftete. Er wurde mit anderen nach Offenbach gebracht, dort verhört und geschlagen. Nach mehr als 3 Wochen unter unsäglichen Haftbedingungen wurden er eingeschüchtert und misshandelt entlassen. Seiner Verhaftung folgten weitere alltägliche Kontrollen, Demütigungen und Schikanen – oft in aller Öffentlichkeit. Dazu gehört, dass er sich täglich bei der Bürgermeisterei melden musste. So im Fokus der Beobachtung stehend, war es zu gefährlich, ihn in ein konspiratives Widerstandsnetz einzubinden.
Anton Schwarzer gehörte zum illegalen Verbindungssystem, das die KPD-Bezirksleitung nach dem Parteiverbot organisierte und das auch Heusenstamm umfasste. Er war Kontaktperson, leitete Flugblätter weiter und sammelte Geld für die Rote Hilfe. Ständig drohten Aufdeckung und Verrat. Schließlich wurde auch Anton Schwarzer 1935 verhaftet und ins KZ gebracht. Von dort kam er 1942 zur „Bewährungseinheit 999“. Als Vaterlandsverräter beschimpft und „wehrunwürdig“ erklärt sollte er sich an vorderster Front bewähren. Anders als viele seiner Kameraden überlebte Anton Schwarzer und kehrte nach dem Krieg nach Heusenstamm zurück.
Bald nach dem Streik bei Kiewe und den damit verbundenen Entlassungen, wurden im Mai 1933 die Gewerkschaften aufgelöst.
An ihre Stelle trat die Deutsche Arbeitsfront (DAF). In der DAF sollten, entsprechend der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie, Unternehmer und Beschäftigte gemeinsam dem faschistischen Staat dienen. Die Unternehmer wurden jetzt „Führer der Betriebe“ genannt, die Beschäftigten „Gefolgschaft“, Begriffe, die die faktische Entrechtung der Arbeiter kennzeichnen. Unter der Kiewe-Belegschaft gab es Widerstände gegen die zwangsweise Eingliederung. Deshalb wurde eine Versammlung einberufen, um sie auf die Ziele der NSDAP einzuschwören. Ihnen wurde eindringlich nahegelegt, ihre oppositionellen Positionen aufzugeben. Da öffentlich geäußerter Widerstand mittlerweile zu gefährlich war, wurden schließlich dann auch die Glasschleifer bei Kiewe zwangsweise in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert. Sämtliche Rechte wie freie Arbeitsplatzwahl, Streikrecht und Lohnautonomie waren ihnen genommen worden.
Die Gebrüder Kiewe erkannten frühzeitig die ihnen als Juden drohenden Gefahren und verlegten ihren Firmensitz 1933 nach England. Der Betrieb blieb bis zum Konkurs im Jahre 1938 in Heusenstamm. Die Produktion wurde überwiegend nach England geliefert und dort bezahlt, während im Heusenstammer Betrieb Lieferantenrechnungen offenstanden. So kamen die Brüder Kiewe durch einen von ihnen herbeigeführten Konkurs der Enteignung zuvor. Das Betriebsgelände und – gebäude wurde 1941 vom Konkursverwalter an einen Lederwarenbetrieb aus Offenbach verkauft. Mit dem Erlös wurden aufgelaufene Schulden bezahlt.
Quelle:
Bürgermeister Kämmerer (SPD) berichtet über den Streik bei Kiewe (11.1.1933) (nachgesprochen)