Heusenstamm

in der NS-Zeit

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Das ehemalige Tivoli1

Frankfurter Str. 35

erst SA-Treffpunkt, dann Unterkunft der Zwangsarbeiter*innen

Hier stand – etwas zurückgesetzt - ein langgezogenes eingeschossiges Gebäude, das ehemalige Tivoli. Das Tivoli war das Vereinslokal der SA und später auch die Geschäftsstelle der NSDAP. Der an die Gaststätte anschließende große Saal bot Raum für Versammlungen. Während des Krieges waren hier Zwangsarbeiter*innen in qualvoller Enge und unter miserablen hygienischen Bedingungen untergebracht.

Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurden viele Männer zur Wehrmacht eingezogen. Sie fehlten in der Landwirtschaft, im Handwerk und in den Fabriken. Um den Arbeitskräftemangel zu decken, verschleppten die Nationalsozialisten Menschen aus dem besetzten Polen, später aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich und der Sowjetunion. 1941 gab es in Heusenstamm 19 ausländische Zwangsarbeiter*innen, bis zum Jahre 1943 stieg ihre Zahl auf 173.

Zunächst wurden sie überwiegend in der Landwirtschaft und in Haushalten eingesetzt, später bei der Rüstungsfirma Wachtberger in der Industriestraße und dem Sägewerk Kaltner am östlichen Ortsausgang.

Zum Teil wohnten die Zwangsarbeiter*innen bei den Familien, für die sie arbeiteten. Die meisten mussten jedoch in Gemeinschaftsunterkünften unter teils katastrophalen hygienische Verhältnissen leben. Solche Wohnlager gab es im Hofgut Patershausen, in der Rüstungsfirma Wachtberger, im hinteren Teil des Zehnthauses in der Schloßstraße und im Tivoli.

Obwohl die Zwangsarbeiter*nnen schwer arbeiten mussten, war ihre Verpflegung noch deutlich schlechter als die der deutschen Bevölkerung. Im März 1944 legten einige Zwangsarbeiter der Firma Wachtberger die Arbeit nieder, weil ihre Verpflegung noch weiter gekürzt worden war. Die Firma meldete dies als Disziplinlosigkeit umgehend der Bürgermeisterei. Über die Konsequenzen finden sich im Archiv keine Unterlagen.

Die ausländischen Zwangsarbeiter*innen, insbesondere aus Polen und der Sowjetunion, wurden von der NS-Propaganda als „Untermenschen“ diffamiert und massiv entrechtet. Es galt ausschließlich ihre Arbeitskraft auszubeuten. Der Kontakt mit der deutschen Bevölkerung wurde ihnen weitgehend verwehrt. Sie wurden gezwungen, auf der rechten Brustseite jedes Kleidungsstückes ein Kennzeichen zu tragen. Die Einhaltung dieser Pflicht wurde streng überwacht. Bei Missachtung erfolgte eine Meldung an die Gestapo in Offenbach.

Material:

Der Betriebsleiter bei Firma Wachtberger beschwert sich über das Verhalten holländischer Zwangsarbeiter 2 (nachgesprochen)

Schon geringe Verletzung der Vorschriften wurden massiv geahndet. Bei Zwangsarbeiter S. reichte der bloße Verdacht eines Diebstahls, ihn ins Gefängnis zu bringen, bei der Ukrainerin Ekaterina Gladkowa führte eine angebliche Arbeitsverweigerung sogar zur Einweisung ins KZ Ravensbrück.

Zwangsarbeit fand auch in Heusenstamm inmitten des alltäglichen Lebens statt. Der Heusenstammer Bevölkerung drohte bei Nichtbeachtung der verfügten Verhaltensmaßregeln schwere Konsequenzen. Trotz der angestrebten Isolierung der Zwangsarbeiter*innen und der Drohung gegenüber Einheimischen gab es persönliche Beziehungen und kleine menschliche Gesten. Dem Heusenstammer Landwirt G. wurde ungehöriges Verhalten vorgeworfen, weil er einen russischen Zwangsarbeiter in Schutz nahm. Nur aus Rücksicht auf seine 8 Kinder wurde er nicht der Gestapo gemeldet. Der Waldarbeiter Bechthold wurde denunziert, weil er im Wartezimmer des Zahnarztes einem Kriegsgefangenen eine Zigarette angeboten hatte. Die Gestapo verhaftete ihn prompt.

Material:

Eine Geste der Menschlichkeit wird geahndet 3 (nachgesprochen)

    Quelle:

  • 1 Vgl. Beez, Fischer, Spurensuche:NS-Zeit in Heusenstamm, Kap. 12
  • 2 Stadtarchiv Heusenstamm Abt. VIII Abschn. 8A, Konv.21,Fasz.12
  • 3 Lagebericht des Bürgermeisters vom 21.3.1941, Stadtarchiv Heusenstamm Abt. XV, Abschn. 2, Konv. 3, Fasz. 1

MEDIEN-EINTRÄGE

Das ehemalige Tivoli kurz vor seinem Abriss 2007

Das ehemalige Tivoli kurz vor seinem Abriss 2007

Transport zur Zwangsarbeit nach Deutschland

Transport zur Zwangsarbeit nach Deutschland

Der Betriebsleiter bei Firma Wachtberger beschwert sich über das Verhalten holländischer Zwangsarbeiter 2 (nachgesprochen)

Eine Geste der Menschlichkeit wird geahndet 3 (nachgesprochen)