Heusenstamm

in der NS-Zeit

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Familie Reinhard –„Sie war schon in Amerika ...“1

Feldstraße 12

Hier – etwas außerhalb des alten Ortskerns - lebten Sally und Fanny Reinhard mit ihren 6 Kindern, damals eine normale Familie, in der die traditionellen Rollenverteilung galt. Sally arbeitete als Bäcker in Offenbach, Fanny kümmerte sich um Kinder und Haus. Die Reinhards nahmen am Leben in Heusenstamm regen Anteil, sei es als aktive Turner oder als Musiker, die mit Nachbarn musizierten oder bei Festen aufspielten.

1933 waren die Kinder zwischen 17 und 29 Jahren alt und lebten mit Ausnahme von Selma, der jüngsten, nicht mehr in Heusenstamm. Alle hatten die Heusenstammer Volksschule besucht. Die beiden Mädchen arbeiteten als Hausmädchen in verschiedenen Haushalten der nahen und weiteren Umgebung. Die vier Jungs hatten eine Lehre absolviert – als Feintäschner, Kaufmann und Bäcker – und suchten eine berufliche Perspektive auch weit über die heimatliche Region hinaus. Die zunehmenden Repressionen gegen jüdische Menschen beschleunigten sicher 1934 die Entscheidung von zweien der Geschwister, ihrem Bruder Alfred nachzufolgen, der bereits 1926, 17jährig, in die USA ausgewandert war. Auch Max, der vierte der Geschwisterreihe, entschied sich kurz darauf zur Auswanderung nach Südafrika. In Kapstadt fand er Beschäftigung in der dortigen Lederwarenbranche. - Nach 1945 besuchte er immer, wenn er zur Offenbacher Lederwarenmesse nach Deutschland reiste, seinen alten Freund August Bauer und dessen Familie in Heusenstamm.

In Nazi-Deutschland zurück blieben außer den Eltern Sally und Fanny, die jüngste Tochter Selma und der zweitälteste Sohn Siegfried, der mit seiner Familie in Offenbach wohnte. Bald besuchte Fanny (Zeitzeugen erinnern sich nicht, ob auch ihr Mann Sally mit ihr reiste) ihre in die USA ausgewanderten Kinder, kehrte aber noch vor 1938 wieder nach Heusenstamm zurück. Über ihre Gründe für die Rückkehr lassen sich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht war es Heimweh, vielleicht auch gerade die unsichere Situation zu Hause. Die jüngste Tochter und die fast 80jährige Verwandte Amalia brauchten ihre Unterstützung. Kurz nach Fannys Rückkehr musste sie erleben, wie aus Repressionen lebensbedrohlicher Terror wurde. Nach der Pogromnacht wurde Sally - wie die anderen Heusenstammer jüdischen Männer - ins KZ Buchenwald deportiert. Körperlich geschwächt und seelisch traumatisiert kehrte er nach Heusenstamm zurück, wo er gleich den Zwangsverkauf seines Hauses betreiben musste.

Material:

Zeitzeugen erinnern sich an die Reinhards (nachgesprochen)

Nach dem Zwangsverkauf ihres Hauses zogen Sally und Fanny mit Selma 1939 nach Offenbach. Selma konnte 1940 in letzter Minute noch in die USA fliehen. Alfreds Bemühen, auch noch den Rest der Familie in die USA zu holen, scheiterte.

Von Offenbach wurden Sally und Fanny und ihr Sohn Siegfried mit seiner Familie im Spätsommer 1942 aus ihren Wohnungen geholt und nach Darmstadt verschleppt. Dort warteten sie auf engem Raum zusammengepfercht auf ihren Abtransport. Am 30.September 1942 wurden sie mit vielen anderen nach Treblinka deportiert. Vermutlich sind alle sofort bei der Ankunft ermordet worden.

    Quelle:

  • 1 Vgl. Richter-Rauch, Beez, Sie wohnten nebenan, Kap. 9

MEDIEN-EINTRÄGE

Stolpersteine für Fanny, Sally, Selma und Amalie

Stolpersteine für Fanny, Sally, Selma und Amalie

Sally Reinhard (rechts mit Hut) bei der Kommunionsfeier seines Nachbarn

Sally Reinhard (rechts mit Hut) bei der Kommunionsfeier seines Nachbarn

Sally Reinhard

Sally Reinhard

Musikergruppe (um 1930) Max Reinhard rechts an der großen Trommel

Musikergruppe (um 1930) Max Reinhard rechts an der großen Trommel

Max Reinhard

Max Reinhard

Familie Reinhard vorne sitzend links Sally und rechts Fanny, dahinter die Kinder (von links nach rechts): Henny, Alfred, Max, Jakob, Siegfried , Selma (1922/23)

Familie Reinhard vorne sitzend links Sally und rechts Fanny, dahinter die Kinder (von links nach rechts): Henny, Alfred, Max, Jakob, Siegfried , Selma (1922/23)

Zeitzeugen erinnern sich an die Reinhards (nachgesprochen)